Eine alte Villa aus der Gründerzeit mit hohen Decken, großen Räumen und von Bäumen umgeben. Als ich das Haupthaus an der Platanenallee betrete, um meinen Gesprächspartner zum Interview zu treffen, schleicht sich bei mir der Gedanke ein: „Oh, ein Haus mit Geschichte!“
Doch ganz so alt wie das Haus ist das Projekt „Langzeit Übergangs- und Stützungsangebot“, kurz LÜSA genannt, dann doch nicht. Seit 1997 erhalten hier drogenkranke Menschen ein sicheres Zuhause, Substitutionsbehandlung und Förderung. Heute leben 43 Klienten in der Einrichtung, Träger ist der „Verein zur Förderung der Wiedereingliederung Drogenabhängiger e.V.“. Seit 2000 ist der Sozialarbeiter Dirk Hübner Leiter der Tagesstruktur.
Herr Hübner, was ist LÜSA genau und welches Ziel verfolgen Sie?
Unser wichtigstes Ziel ist die Wiedereingliederung chronisch drogenabhängiger Menschen in die Gesellschaft. Das geht aber nicht von heute auf morgen. Man muss wissen, dass die meisten unserer Klienten mehrfach schwerstgeschädigt sind. Drogenabhängigkeit ist eine Krankheit, die nicht über Nacht geheilt werden kann. LÜSA ist eine niedrigschwellige stationäre Wohneinrichtung der Eingliederungshilfe und bietet unterschiedliche Unterstützungsangebote.
Können Sie uns einige Angebote nennen und vielleicht auch Ihren Verantwortungsbereich beschreiben?
Aber natürlich! Wir sind ein interdisziplinäres und interkulturelles Team und haben eine 24-Stunden Präsenz im Haus, das heißt die Klienten können sich bei psychischen und sonstigen Krisen jederzeit an uns wenden – so zum Beispiel bei sozialen, gesundheitlichen, juristischen und finanziellen Problemen. Das Wichtigste ist jedoch: Wir geben unseren Klienten ein Zuhause, zumeist für zwei Jahre, wenn es notwendig ist, aber auch länger. Meine Kollegen und ich verfolgen dabei den Ansatz „Hilfe zur Selbsthilfe“. Wir suchen in Gesprächen gemeinsam mit den Klienten individuelle Lösungswege und fokussieren uns auf die vorhandenen Kompetenzen. Ein wichtiger Baustein ist die Substitutionsbehandlung, das bedeutet der Ersatz von Drogen durch Medikamente, um die körperlichen Auswirkungen der Drogenabhängigkeit zu behandeln. Begleitet wird diese medizinische Hilfe durch eine psychiatrische Behandlung.
Als Leiter der Tagesstruktur verantworte ich die Beschäftigungsangebote. Die Klienten können zum Beispiel zwischen der Holz-, der Druck- oder der Kreativwerkstatt wählen.
Ist die Teilnahme an diesen Angeboten Pflicht?
Nein, aber eine sinnvolle Tagesgestaltung war für die meisten unserer Klienten, bevor sie zu uns kamen, problematisch. Wenn die Sucht das Leben bestimmt, ist das mit einer sehr fordernden Managementposition zu vergleichen. Im Zentrum steht die Jagd nach der Droge. An Freizeit oder eine sinnerfüllende Tätigkeit ist da nicht zu denken. Wir versuchen, für jeden Klienten einen passenden Bereich nach Interesse und Fähigkeiten zu finden. Ziel ist das Einüben einer sinnvollen Tagesstruktur, die zu mehr Zufriedenheit führt. Mit unseren Angeboten geben wir dem Tag mehr Leben! Das nehmen die meisten unserer Klienten gerne an.
Wie ich weiß, betreibt LÜSA auch ein Café?
In unserer Antikwerkstatt werden alte Möbel aufgearbeitet. Diese werden verkauft oder auch an die Klienten weitergegeben, die unsere Einrichtung verlassen und wieder in eine eigene Wohnung oder in unser ambulant betreutes Wohnen ziehen. Nur wenige Gehminuten vom Haupthaus entfernt betreiben wir in unserem Tagesstrukturzentrum Re.MISE, Friedrich-Ebert Str. 2a, ein urgemütliches „Antik-Café“, das ebenfalls mit diesen antiken Möbeln und Geschirr eingerichtet ist. Das Café hat sogar eine Sonnenterrasse und eine Kinderspielzone, die von Krabbel- und Kinderspielgruppen genutzt werden kann. Es hat sich als Treffpunkt für Jung und Alt entwickelt. Die Menükarte reicht vom Frühstück über Mittagsgerichte bis zu Kaffee und Kuchen. Die Räumlichkeiten können auch für Geburtstags-, Familien-, Tauf-, Hochzeits- oder auch Trauerfeiern gebucht werden. Hier treffen sich auch Arbeitsgruppen wie das Netzwerk Königsborn, der Integrationsrat der Stadt Unna oder die LWL-Koordinationsstelle. Der Clou des Cafés: Fast alle Gegenstände können auch gekauft werden.
Finanzieren Sie mit den Einnahmen auch die Arbeit Ihrer Einrichtung? Wie wichtig sind diese Einnahmen für LÜSA?
Die unterschiedlichen Bereiche, wie zum Beispiel auch unsere Hausmeisterdienste für soziale Einrichtungen, betreiben unsere hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter gemeinsam mit den Klienten. Die Produkte der Werkstätten werden auf Basaren und Märkten angeboten. Die Erlöse stehen dabei jedoch nicht im Vordergrund. Wenn Bürgerinnen und Bürger unser Café besuchen oder aufbereitetet Möbel kaufen, entstehen Begegnungen zwischen suchtkranken und nicht suchtkranken Menschen. Das steht im Vordergrund. So werden Vorurteile abgebaut – auf beiden Seiten!
Und wie finanziert sich LÜSA?
Noch bis zum 1. Januar 2020 bekamen behinderte Menschen in sogenannten „stationären Einrichtungen“, wie z.B. in den Wohneinrichtungen des Projektes LÜSA, Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch (SGB XII). Für jeden Klienten erhielt unser Träger vom Landschaftsverband (LWL) einen bestimmten Satz, mit dem Miete, Lebensunterhalt und Betreuung sichergestellt waren. Seit Januar diesen Jahres ist die bisherige Eingliederungshilfe aus dem Sozialhilferecht herausgelöst und gesetzlich komplett neu im Bundesteilhabegesetz (BTHG /SGB IX) geregelt worden. Damit geht eine Trennung der Zuständigkeiten für die Fachleistungen (Eingliederungshilfeleistungen) und die existenzsichernden Leistungen wie Lebensunterhalt und Wohnen einher.
Auch unsere Klienten erhalten zum Jahresbeginn ihre „personenzentrierten Leistungen“ nun von zwei Trägern: der LWL trägt weiterhin die Leistungen der Eingliederungshilfe und die „existenzsichernden Leistungen“ erhalten unsere Klienten von den Grundsicherungsämtern der jeweiligen Städte und Gemeinden.
Was ist das Ziel dieser Reform?
Mit der sogenannten „Personenzentrierung“ formuliert das Gesetz das Ziel, dass der Mensch im Mittelpunkt stehen soll. Dabei wird die Eingliederungshilfe für Menschen mit erheblichen „Teilhabeeinschränkungen“, wie das auch bei unseren Klienten der Fall ist, nicht mehr Teil des Fürsorgesystems der Sozialhilfe, sondern zu einem „modernen Teilhaberecht“ weiterentwickelt. Die Leistungen der Eingliederungshilfe orientieren sich nicht mehr an einer bestimmten Wohnform, sondern ausschließlich am individuellen Bedarf der Person. Unsere Klienten haben jedoch einen komplexen Hilfebedarf. Das ist nach unserer Ansicht bei der Reform nur unzureichend berücksichtigt worden.
Was hat das für Konsequenzen? Erhalten Ihre Klienten weniger Leistungen?
Nein, das vermutlich nicht. Zumal im Gesetz klar festgeschrieben ist, dass sich für die Hilfenutzer an der Qualität ihrer persönlichen Betreuung sowie am Umfang der gewährten Hilfen nichts verschlechtern darf. Für uns als Mitarbeiter steigt der bürokratische Aufwand jedoch immens. In der Vorbereitung der Reform war dieser in den letzten drei Jahren nur über einen unbeschreiblich hohen Arbeitsaufwand in Eingliederungshilfe und Verwaltung umzusetzen. Wir hoffen, dass das BTHG „nur“ Unsicherheit und einen höheren Arbeitsaufwand für alle Beteiligten bedeutet. Wir befürchten jedoch, dass es langfristig zu einem Instrument wird, um Drogenabhängige und von Exklusion betroffene Menschen zu sanktionieren und von einer gesellschaftlichen Teilhabe auszuschließen.
Unsere Kritik begründet sich auch darin, dass im Vorfeld des Gesetzes weder Selbsthilfe noch Praxis der Drogen- und Suchthilfe einbezogen wurden und somit die Lebenswirklichkeit dieser Menschen mit Behinderung im Gesetz nicht abgebildet worden ist. So durchschauen die meisten unserer Klienten die verwaltungsinternen Auswirkungen dieser Reform nicht. Ohne unsere Unterstützung können sie ihre Rechte nur unzureichend wahrnehmen.
Herr Hübner, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Liberto Balaguer.