Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

Unbekannte Heimat

Es ist stiller geworden in den vergangenen Monaten – nicht nur in Königsborn. Gleichzeitig überbieten sich Politik, Interessensgruppen, Gewerbetreibende oder besorgte Bürger mit lautstarken Statements. Corona zwingt zum Schweigen, provoziert aber auch Widerspruch. Die Pandemie ist die Geschichte des Gegenteils, die Vertreibung aus dem gewohnten Alltag. Kurz: Die Heimat verändert sich fast bis zur Unkenntlichkeit.

Zwar sind wir alle wie selten zuvor an unsere Wohnung, unseren Wohnort, unser Quartier und unser engstes Lebensumfeld gebunden, doch ist diese Lebenswelt kaum noch wiederzuerkennen. Galt noch vor wenigen Monaten das Ideal einer grenzenlosen und global vernetzten Welt, in der wir uns weitgehend ungehindert bewegen konnten, sind wir plötzlich auf das Zuhause zurückgeworfen.

Heimat als einzigartiger Ort mit einer besonderen Geschichte und mit unverwechselbaren Merkmalen, zu dem man eine tiefe, emotionale und dauerhafte Beziehung hat, war vor COVID-19 – da war man sich einig – ein individuelles, privates Gefühl.

Doch die Corona-Krise hat alles verändert und sie hat zwei Gesichter: Einerseits eröffnete sie neue Perspektiven auf das Thema Heimat. Heimat ist plötzlich wieder mehr als ein privates Gefühl. Schon vor der Pandemie ist der Ortsbezug wiederholt als wichtiger Faktor in einer zunehmend zerrissenen und individualisierten Gesellschaft beschrieben worden – und als Voraussetzung für die Entwicklung von Verantwortungsgefühl und der Bereitschaft zu Partizipation und Engagement im eigenen Stadtteil.

Andererseits ist Corona auch Entheimatung. Der Virus hat eine andere Beziehung zur Welt und den Mitmenschen hergestellt. Sie sind eine potentielle Gefahr; man geht daher auf Abstand zu ihnen, man begegnet ihnen mit Maske, man vermeidet Kontakt, sei es beim Einkaufen, beim Wandern im Wald oder beim Joggen im Park. Und auch wir möchten auf keinen Fall eine Gefahr für Eltern, Großeltern oder andere Menschen sein. Alles das Gegenteil von Heimat, in der einem die Menschen, die Tiere und die Dinge freundlich entgegenkommen; Heimat ist da, wo einem die Welt vertraut ist oder vertrauenswürdig begegnet und wo das potenziell Gefährliche nicht gefährlich ist. In der Pandemie wird alles zu Objekten des Virus. Das Virus ist das Subjekt, das sich ihrer bemächtigt. Die Welt, unsere Heimat wird fremd.

Wenn wir unsere Heimat zurück haben möchten und unser Leben weiter leben wollen, brauchen wir eine radikale Änderung unserer Perspektive. Das beginnt damit, die Spaltung der Gesellschaft und die Schwarz-Weiß-Malerei zu überwinden. Das sollten wir aus der Pandemie lernen. Wir müssen unsere Empathie nicht nur auf die Menschen ausdehnen, sondern auch auf die Natur, aus der wir kommen. Das wäre ökologische Empathie.

Gleichzeitig müssen wir miteinander ins Gespräch kommen oder auch streiten, wie sich Veränderungen ohne massive Entfremdungs- und Entheimatungsgefühle verkraften lassen und wie die Orte, an denen wir leben, beschaffen sein sollen, damit wir sie als Heimat erleben können. Denn auch das lehrt uns das Virus: Menschen brauchen Heimat – und Heimat braucht Orte.

Liberto Balaguer

Quartiersmanager