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Integration ist keine Einbahnstraße

Frisches Gemüse, knackiges Obst und jede Menge Lebensmittel, auch aus Polen, Russland, Rumänien oder der Türkei – mit seinem Angebot aus acht Ländern ist der Königsborner Maxi-Markt in der Ladenpassage an der Berliner Allee ein wirklich internationaler Ort. Gerade passend für ein Gespräch mit meinem Interviewpartner, der in seiner ersten Ausbildung Einzelhandelskaufmann gelernt hat und seit August 2017 neuer Integrationsbeauftragter der Kreisstadt Unna ist.

Herr Tekin, Sie sind in der Türkei geboren, aber in den Siebzigern im Alter von zwei Jahren mit Ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Bei einer Ausbildung als Kaufmann war für Sie die Arbeit als türkischer Gemüsehändler doch vorprogrammiert?
(Lacht) Nein, beruflich hatte ich noch nie mit Gemüse zu tun und Kochen kann meine Frau viel besser als ich. Nach meiner Ausbildung bei Karstadt in Dortmund habe ich fast zehn Jahre hochwertige Orientteppiche verkauft. Parallel habe ich am Abendgymnasium mein Abitur gemacht. Ich wollte schon immer studieren und habe meinen Abschluss 2005 in Erziehungswissenschaften, Pädagogik gemacht – Schwerpunkt: Bildungsberatung und -systeme.

Nicht auf direktem Weg ins Studium zu kommen, sind Erfahrungen, die viele Migranten mit Ihnen teilen.
Vor dem Studium eine Ausbildung zu machen, hat für junge Menschen auch Vorteile! Aber Sie haben Recht: Nach der Grundschule trauten meine Lehrer mir das Gymnasium nicht zu. Diese Erfahrung machen viele Migranten. Die Gefahr ist groß, dass trotz guter Noten der Lehrer zur Hauptschule rät. Das betrifft aber nicht nur Migranten, sondern auch viele Kinder aus sogenannten „bildungsfernen Schichten“.

Verantwortlich sind aber doch in erster Linie die Eltern. Welchen Stellenwert hatte Bildung in Ihrem Elternhaus?
Einen sehr hohen! Für meine Eltern stand der Erwerb der deutschen Sprache an erster Stelle. Gleich danach kam eine gute Bildung für ihre Kinder. Allerdings hat der Staat die Aufgabe, für gute Rahmenbedingungen zu sorgen: Während Dänemark 2015 sieben Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für staatliche Bildungsausgaben aufwendete, lag die Quote hierzulande bei mageren 4,2 Prozent. Sie ist damit deutlich unterhalb des EU-Durchschnitts von knapp fünf Prozent. Von den 28 Mitgliedstaaten der EU liegen 21 vor Deutschland. Hier muss sich dringend etwas verbessern.

Ist Bildung auch eine Richtlinie für Ihre Arbeit als Integrationsbeauftragter?
Auf jeden Fall. Für Menschen, die nach Deutschland gekommen sind oder kommen, ist das Erlernen der deutschen Sprache zwingend. Darauf baut alles auf. Das hat auch etwas mit Respekt zu tun, sich für die Kultur und die Werte in der „neuen Heimat“ zu interessieren – und sie zu akzeptieren. Das ist ein wichtiger Teil von Integration. Auf der anderen Seite ist es wichtig, gerade neu angekommene Menschen mit Freundlichkeit zu begegnen, auch wenn es mit der deutschen Sprache noch etwas holprig läuft. Integration ist keine Einbahnstraße!

Viele Menschen vertreten die Ansicht, dass Integration vor allem Anpassung bedeutet. Wir alle müssen jedoch begreifen, dass Integration ein gegenseitiger Prozess ist und nicht von den Immigranten allein erbracht werden kann. In diesem Prozess verändern sich nicht nur die Menschen, die zu uns kommen, sondern auch die Aufnahmegesellschaft.

Im Grunde genommen geht es doch darum, eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen in Deutschland zu sichern und dadurch den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Bildung ist dabei der wichtigste Schlüsselfaktor. Erst dadurch steigt auch die Identifikation mit den Werten und Spielregeln eben dieser Gesellschaft.

Was viele Einheimische allerdings tagtäglich erleben, ist, dass sie sich fremd in der eigenen Stadt fühlen. Sie haben das Gefühl, dass viele Migranten diese Spielregeln eben nicht einhalten.
Wir müssen akzeptieren, dass es so etwas wie ein Erstgeburtsrecht für Menschen deutscher Herkunft nicht gibt! Wir denken manchmal zu eingleisig: Migranten müssen so werden wie wir und sich perfekt anpassen. Das ist ein gefährlicher Weg, und einer, der Menschen auf eine einzige Identität reduziert. In der Realität verfügen wir alle über unterschiedliche Merkmale: Ich bin türkischer Abstammung, Deutscher, Europäer, Familienvater, Fußballspieler und städtischer Angestellter. Und ich springe zwischen diesen Identitäten hin und her. Dasselbe gilt für Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Wir müssen aufhören, in Gruppen zu denken. Für die einen werden Migranten grundsätzlich immer diskriminiert. Die Anderen versuchen, Migranten zu kriminalisieren und sagen, die sind das Problem. Entscheidend sind jedoch positive Rollenmodelle. Erst durch diese werden Menschen motiviert, ihre Vorurteile abzulegen. Und es motiviert Menschen mit Migrationshintergrund, die soziale Leiter hochzusteigen. Rassismus und Diskriminierung muss man auch deshalb bekämpfen, weil sie beide die Lebenschancen bestimmter Menschen zerstören. Und beides zerstört das grundlegende Konzept unserer westlichen Gesellschaft: Freiheit und die Chance auf ein besseres Leben durch Arbeit und Leistung.

Was erwarten Sie von Migranten, die nach Unna kommen oder schon länger hier leben?
Als erstes, dass sie so schnell wie möglich Deutsch lernen. Zweitens, dass sie ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten: Eine Arbeit finden, einen Abschluss machen, wenn sie keinen haben. Und drittens: Dass sie verstehen, dass, wenn man die Grundsätze unserer Gesellschaft respektiert, diese Grundsätze auch ihre Freiheit garantieren. Ich erwarte aber auch etwas von den anderen Menschen in Unna: dass sie für Vielfalt offen sind. Auch wer kein Migrant ist, sollte sich die Frage stellen: Wie kann ich zu einer lebenswerten Stadt beitragen? Und nicht immer nur sagen, die anderen müssen sich anstrengen.

Herr Tekin, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Liberto Balaguer.